Das Krisenportfolio der Gegenwart lässt die repräsentative Demokratie an ihre Grenzen stoßen. Vor welchen Herausforderungen steht unser politisches System? Welche Ideen lassen sich für eine lebendige Demokratiegestaltung finden? Wie können Bürger:innen zu Gestalter:innen werden? Ein Gesprächsabend mit der Demokratieaktivistin und Autorin Marina Weisband am 19. März 2024 in Moers stellte diese Fragen ins Zentrum der Debatte.
„Wir sind an einer Stelle, an der wir merken, dass es so, wie es ist, nicht weiter geht.“ Mit diesen Worten beschreibt Marina Weisband, Diplompsychologin und Beteiligungspädagogin, den Status quo unserer Demokratie. Diese sei nicht länger vollständig in der Lage, die komplexen Probleme unserer Gegenwart zu lösen. Doch mit dieser Erkenntnis geht für sie nicht nur Negatives einher, es liege tatsächlich auch etwas Schönes darin: „Denn was jetzt kommt, bestimmen wir“.
Der Kampf um ein demokratisches Morgen
Diese Zukunftshoffnung schmälert allerdings nicht die Sorge, mit der Marina Weisband auf die aktuellen Herausforderungen der Demokratie blickt. Ihre These: „Entweder die Demokratie verändert sich oder sie stirbt.“ Denn Demokratien weltweit sind herausgefordert. Die globale Rechte habe das erkannt, vernetze sich und kopiere Taktiken zur Destabilisierung. Die rechtsextremen Akteure hätten vor längerem verstanden, dass sie einen Kampf um das Morgen führen. Die Demokrat:innen hätten zwar länger gebraucht, um das zu begreifen. Marina Weisband zeigt sich jedoch davon überzeugt, dass eine aktive demokratische Gesellschaft die Zukunft noch bestimmen könne.
Legitimitätsprobleme der Demokratie
Für Weisband ist die aktuelle repräsentative Demokratie jedoch für diese Auseinandersetzung um eine gute Zukunft nicht ausreichend aufgestellt. In der Analyse des demokratischen Prozesses in Deutschland attestiert sie eine Kluft zwischen politischen Vertreter:innen und den Bürger:innen, die sich in dreifacher Hinsicht als demokratisches Hindernis erweise.
Politik, so Weisband, erkläre sich nicht oder nur ungenügend. Am Beispiel der politischen Entscheidungen über Waffenlieferungen an die Ukraine beschreibt sie eine ruckartige und reaktive Politik. Darüber hinaus sei die stattfindende politische Kommunikation auf Journalist*innen ausgerichtet, da diese die üblichen Gesprächspartner seien. Dass beispielsweise eine 16-jährige Schülerin ein anderes Vorwissen habe und daher eine andere Ansprache, mehr Hintergrund und Erläuterungen brauche, werde nicht mitgedacht. Dies führe zu einer Repräsentationskrise, die sich durch das Gefühl auszeichne, dass Politik etwas Fernes sei, das nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun habe. In der Folge dieser Prozesse verliere das demokratische System an Legitimität.
Nicht Konsumenten, sondern Gestalter von Politik sein
Herausfordernd sei darüber hinaus das eigene Rollenverständnis vieler Bürger*innen. Oft würden diese sich verhalten wie Konsumenten von Politik, obwohl sie dies nicht seien sollten. Eine aktive Gestaltung der demokratischen Umwelt sei jedoch nicht eingeübt und auch in der Schule meist nicht vermittelt worden. Wer möchte ich sein? Was möchte ich mit anderen gestalten? Mit diesen Fragen fange Politik an. Um diese Form des Gestaltens erlernen zu können, brauche es Freiräume, Orte der Begegnung in Nachbarschaft und Stadt, an denen ohne Konsumzwang gesprochen und ausprobiert werden könne. „Wenn wir nicht aufwachsen wie Gestalter, wie sollen wir dann gestalten?“ fasst Marina Weisband zusammen.
Streiten lernen
Teil dieses demokratischen Gestaltungsprozesses sei auch Streit. Dieser müsse (neu) erlernt werden und sei eng verbunden mit dem Aspekt der gegenseitigen Begegnung. „Ich kann nur die Bedürfnisse meiner Mitmenschen erkennen und akzeptieren, wenn ich diese Mitmenschen kenne,“ führt Weisband aus. Zur Wahrheit gehöre jedoch auch, dass Streit und Demokratie weh täten. „Demokratie ist ein Aushandlungsprozess. Das bedeutet immer, dass ich jeden Tag reflektieren muss: Hatte ich eigentlich recht?“ Diesen Prozess gelte es einzuüben. Eine besondere Bedeutung bekommen für Marina Weisband dabei gesellschaftlicher Zusammenhalt, Familien- und Freundeskreise – gute und stabile soziale Netzwerke. Nur mit funktionierender sozialer Einbettung sei es möglich, einen positionellen Irrtum eingestehen zu können, ohne die Angst haben zu müssen, mit der inhaltlichen Position auch die eigene soziale Verortung zu verlieren. In der stark individualisierten Gesellschaft fänden sich diese Netzwerke, diese Formen der Gemeinschaft, jedoch immer seltener.
Es braucht Visionen und Utopien
Vor diesem Hintergrund gelte es als Gesellschaft, Utopien einer gemeinsamen Zukunft zu entwickeln. „Wir müssen nicht nur lernen, selbst demokratisch zu sein und Verantwortung für einander zu übernehmen,“ betonte Marina Weisband. Vielmehr gelte es, die aus diesem Lernprozess erwachsene Kraft dafür zu nutzen, sich zu organisieren und das politische System weiterzuentwickeln. Um dabei nicht in eine destruktive Haltung des reinen Ablehnens zu kommen, sei das erste, was es für Veränderung brauche, Visionen und Utopien.
Baukasten der Demokratie
Der Werkzeugkasten der Demokratie halte dabei für die Gestaltung der Zukunft viele verschiedene Werkzeuge bereit. Die repräsentative Demokratie sei eines davon. Unterschiedliche Ebenen der Betroffenheit und Komplexitäten erforderten unterschiedliche Ansätze. Für leichte und sehr nahe Probleme böten sich beispielsweise direkte Verfahren an, führt Weisband aus, während komplexe Verfahren im Nahraum über Bürgerräte entschieden werden könnten. Entscheidungen jenseits der eigenen direkten Lebensrealität könnten bei wenig komplexen Themen über Verfahren der liquid democracy und bei komplexen Fragen über die repräsentative Demokratie getroffen werfen.
Das Bestreben, in der Stadt Moers einen Bürgerrat zu etablieren, fand von Marina Weisband vor diesem Hintergrund große Zustimmung und leitete zur angeregten Diskussion mit den Teilnehmenden der Veranstaltung über.
Das Podiumsgespräch mit Marina Weisband führte Dieter Zisenis vom Evangelischen Laboratorium, einer Kooperation der vier evangelischen Kirchenkreise am Niederrhein: Dinslaken, Duisburg, Moers und Wesel.
Der Abend war Teil einer Veranstaltungsreihe, in denen sich eine breite Kooperation den demokratischen Herausforderungen stellt. Zu den Kooperationspartnern gehörten jenseits des Laboratoriums: Fachstelle für Demokratie der Stadt Moers, vhs Moers – Kamp-Lintfort, Schlosstheater Moers, Grafschafter Museum im Alten Landratsamt, Neues Evangelisches Forum des Kirchenkreises Moers, Evangelische Akademie im Rheinland, Europe Direct Duisburg-Niederrhein, sci:moers gGmbH.
Die Veranstaltung wurde gefördert durch die Fachstelle für Demokratie der Stadt Moers im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
(20.03.2024, Till Kiehne, Evangelische Akademie im Rheinland)