Schätze von besonderem Wert

Die Kölner Kunsthistorikerin Dr. Marina Rieß hat für ihre Dissertation mehr als 120 liturgische Goldschmiedewerke der Frühen Neuzeit am Niederrhein untersucht. Sie zeigen eindrucksvoll, wie sich die unterschiedlichen Konfessionen auf die Gestaltung von Abendmahlsgeräten ausgewirkt haben. Die preisgekrönte Arbeit gibt Einblick in die Anfänge des evangelischen Glaubens am Niederrhein und widerlegt ein in der Forschung häufig bestehendes Vorurteil.

Dr. Marina Rieß ist Kunsthistorikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kölner Karnevalsmuseum.

Unscheinbar wirkt sie, die birnenförmige, aus Silber angefertigte Kanne, mit der im Weseler Willibrordi-Dom während des Abendmahls der Wein ausgeschenkt wurde. „Doch nur weil etwas schlicht gestaltet ist, heißt es nicht, dass es weniger besonders ist“, sagt Dr. Marina Rieß. Die Kölner Kunsthistorikerin hat für ihre Dissertation liturgische Goldschmiedewerke des katholischen und evangelischen Glaubens aus dem 16. bis 18. Jahrhundert am Niederrhein untersucht. Mit Digitalkamera und Maßband hat sie Museen und Kirchengemeinden aufgesucht und mehr als 120 Abendmahlskelche, -pokale und -becher, Hostiendosen, Brotteller und -schalen, Abendmahlskannen und Taufgefäße sowie weitere liturgische Geräte erfasst und anschließend katalogisiert.

Evangelische Abendmahlsgeräte sind besonders

Ihr Fazit: „Die evangelischen Kirchengemeinden am Niederrhein können stolz sein auf ihre liturgischen Geräte.“ Anders als bei katholischen Pfarreien, die ein stärkeres Bewusstsein für ihre Kirchenschätze hätten, sei den evangelischen Kirchengemeinden häufig nicht bewusst, wie alt und bedeutsam die Geräte sind, mit denen sie mitunter heute noch das Abendmahl austeilen. Doch die Kunsthistorikerin bekräftigt: „Die evangelischen Abendmahlsgeräte sind besonders. Sie spiegeln die Anfänge des protestantischen Glaubens am Niederrhein wider und zeigen, wie sich die Reformation und der anschließende Konfessionalisierungsprozess auf die Gestaltung liturgischer Geräte ausgewirkt hat.“

Details der Weseler Abendmahlskanne: Zwei Wappen (o.li. und o.re.) auf dem Kannenbauch belegen, dass es sich bei dem Gefäß um eine Schenkung von einer Adligen handelt. Die Darstellung des Kruzifixes auf der Gefäßwandung (u.li.) weist die Kanne trotz ihrer profanen Form als sakrales Schenkgefäß aus. Das Siegel der lutherischen Gemeinde befindet sich im Kannendeckel. Es zeigt die Arche Noah, die Taube mit dem Ölzweig und die Inschrift „Laetum Nuntium“ (Frohe Botschaft).

Material, Form und Ikonografie der Goldschmiedewerke

Deutlich werde dies etwa durch den gezielten Einsatz profaner Formen und volksprachlicher Inschriften auf den protestantischen Geräten sowie durch eine zurückhaltende Verwendung von sakralen Bildern bis hin zum vollständigen Verzicht auf solche. Auch fehle im Vergleich zu katholischen Gefäßen bei einer Schenkung die Fürbitte für die Schenkenden. „Material, Form und Ikonografie der sakralen Goldschmiedewerke trugen ganz klar zur Identitätsstiftung und konfessionellen Abgrenzung bei“, erklärt die Kunsthistorikerin, die an der Universität zu Köln promoviert hat. Das gelte sowohl für den katholischen als auch den evangelischen Glauben – welcher am Niederrhein durch lutherische und calvinisch-reformierte Gemeinden repräsentiert wurde.

Niederrhein bietet gute Ausgangsbasis für die Forschung

„Für die Erforschung protestantischer Goldschmiedewerke des 16. Jahrhunderts bis zur Kirchenunion 1817 und das Herausarbeiten konfessionsspezifischer Merkmale ist es unerlässlich, zwischen lutherisch und calvinistisch-reformiert zu unterscheiden“, sagt Dr. Marina Rieß. Um Vergleiche zwischen diesen beiden und auch noch zur katholischen Konfession ziehen zu können, biete der Niederrhein eine hervorragende Ausgangsbasis, erklärt die Kunsthistorikerin, warum sie sich für dieses Untersuchungsgebiet entschieden hat. Die 37-Jährige stammt selbst aus der Region und hat schon durch eine vorangehende Forschungsarbeit einen Eindruck von deren historischer Bedeutung für liturgische Goldschmiedewerke gewinnen können.

Lutherische Abendmahlsgeräte: (v. li.) Abendmahlskelch, 1712, Drevenack Ev. Kirche; Abendmahlskelch, 1624, Wesel, Willibrordikirche; Abendmahlspokal, Anfang 17. Jahrhundert, Wesel, Lutherhaus.

Sowohl lutherische wie calvinistisch-reformierte Gemeinden

„Im 16. Jahrhundert herrschte am Niederrhein eine besondere politische Situation, die der lutherischen und calvinistisch-reformierten Konfession ermöglichte, neben dem katholischen Glauben zu existieren und sich zu etablieren“, erklärt Dr. Marina Rieß. Zurückzuführen sei dies auf die „via media“-Politik des damals herrschenden Herzogs Wilhelm V. Er bemühte sich in seinem Herzogtum Kleve um einen Ausgleich zwischen den durch die Reformation entstandenen Fronten. Dieser „politische Mittelweg“ äußerte sich zunächst in einer toleranten Religionspolitik, berichtet die Kunsthistorikerin. Sie erlaubte es sowohl dem Luthertum Fuß zu fassen, wie auch parallel dem Calvinismus. „Und das obwohl der Calvinismus reichsrechtlich noch nicht anerkannt war, sich aber durch den Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge stark verbreiten konnte.“

Neue liturgische Gefäße entstehen

Gerade das unterschiedliche Verständnis der drei Konfessionen von der Bedeutung der Eucharistie lasse sich an den liturgischen Goldschmiedewerken gut ablesen, erläutert Dr. Marina Rieß. „Während nach katholischer Lehre die Kommunion ‚sub una specie‘, also nur in einerlei Gestalt, der Hostie, an die Gläubigen ausgeteilt wird und der Wein dem Priester vorbehalten bleibt, erfolgt die Austeilung des Abendmahls nach protestantischem Glaubensverständnis ‚sub utraque species‘, in beiderlei Gestalt“, erklärt sie. „Mit Einführung des Laienkelchs entstand die Abendmahlskanne als neues liturgisches Gerät für das Abendmahl.“ Denn um den Wein an alle Gläubigen ausschenken zu können, benötigte die Gemeinde ein entsprechend großes Gefäß, mit dem der Abendmahlskelch oder -becher befüllt werden konnte.

Reformierte Abendmahlsgefäße: (v. li.) Abendmahlskanne, ursprünglich: Abendmahlsbecher, 1678, Isselburg, Ev. Kirche; Abendmahlspokal, ca. 1697, Kalkar, Ev. Kirche,; Abendmahlskanne, 1680, Kalkar, Ev. Kirche.

Größeres Gefäß für wachsende Gemeinde

„Die im Willibrordi-Dom aufbewahrte Abendmahlskanne spiegelt eindrucksvoll wider, wie liturgische Geräte dazu beigetragen haben, ein evangelisches Traditionsbewusstsein zu entwickeln“, sagt Dr. Marina Rieß. Ein reformierter Weseler Goldschmied hatte das Gefäß im Jahr 1728 im Auftrag der lutherischen Gemeinde in Wesel angefertigt – aus dem Silber einer eingeschmolzenen Vorgängerkanne, wie eine Inschrift im Kannenbauch belegt. „Die Vorgängerkanne aus dem Jahr 1626 war sehr wahrscheinlich für die wachsende Gemeinde zu klein geworden“, erklärt Rieß. Denn etwa zeitgleich sei in Quellen von einem Kirchenneubau für die Weseler Lutheraner zu lesen. Die Kunsthistorikerin vermutet: „Die neue Abendmahlskanne ist sicher mit Einweihung der Kirche im Januar 1729 zum ersten Mal liturgisch genutzt worden.“

Gestaltungselemente wurden übernommen

Neben der Form wurden von der Vorgängerkanne auch deren Inschrift sowie lutherisch codierte Gestaltungselemente wie ein Kruzifix auf dem Kannenbauch für das neue liturgische Gefäß übernommen. „Das überlieferte Narrativ der Vorgängerkanne erfuhr hierdurch eine konsekutive Rezeption der lutherischen Abendmahlsgemeinschaft“, erklärt Dr. Marina Rieß. So blieben die Kernaussagen auch im neuen Goldschmiedeobjekt sichtbar. Die Kunsthistorikerin ist überzeugt: „Durch die Abendmahlskanne ist ein Traditionszusammenhang geschaffen worden, der für die frühe lutherische Gemeinde in Wesel von großer Bedeutung war und in den sich auch andere Gemeinden stellten.“

Reformierter Brotteller, 1617 und Brotschale, 1664, beides Wesel, Willibrordikirche

Weitere Nachbildungen werden angefertigt

Denn genau 60 Jahre später fertigte ein lutherischer Goldschmied zwei weitere Abendmahlskannen an, die eine nahezu identische Nachbildung der 1728 geschaffenen Abendmahlskanne darstellen. Eine der Kannen war ebenfalls für die lutherische Kirchengemeinde in Wesel bestimmt, die andere hingegen war für den Gottesdienst der lutherischen Kirche im benachbarten Drevenack vorgesehen. „Der Rückbezug auf das ursprüngliche Abendmahlsgerät spricht nicht nur für die Bildung einer eigenen nachreformatorischen, evangelischen Tradition, sondern führt dem Betrachter der Abendmahlskanne zugleich die Beständigkeit des lutherischen Glaubens vor Augen“, erklärt die Kunsthistorikerin.

Ausgezeichnet mit dem Paul-Clemen-Preis 2021

Mehr als 700 Seiten umfasst die Dissertation von Dr. Marina Rieß, in der sie auch am Beispiel der drei Städte Wesel, Kleve und Kalkar konfessionelle Prägungen und Organisationsformen des Goldschmiedehandwerks am Niederrhein herausgearbeitet hat. Für ihren herausragenden wissenschaftlichen und insbesondere kunsthistorisch wertvollen Beitrag ist sie im Oktober mit dem Paul-Clemen-Preis 2021 ausgezeichnet worden. Der vom Landschaftsverband Rheinland vergebene und mit 10.000 Euro dotierte Preis ehrt junge Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die sich der Erforschung der rheinischen Kunst widmen und sich dabei durch besonders gründliche, qualitativ hochwertige Forschung und detaillierte Ausarbeitung ihres Themas auszeichnen.

Reformierte Taufgeräte: (v. li), Taufschale, 1636, Willibrordikirche, Wesel; Taufschüssel (mit Deckel), 1715, Emmerich, Rheinmuseum.

Vielfältig in Form und Gestaltung

„Das häufig in der Forschung bestehende Vorurteil, evangelisches Kirchengerät sei einseitig in Form und Gestaltung, kann durch meine Arbeit vollständig widerlegt werden“, erklärt Dr.  Marina Rieß. Gerade beim evangelischen Abendmahlsgerät habe sie eine Vielfalt an Formen vorgefunden, die sich bei den liturgischen Geräten der katholischen Kirche so nicht finde. Die meist profane Formgebung dieser Goldschmiedearbeiten stelle die kunsthistorische Forschung jedoch auch immer wieder vor große Herausforderungen: „Ohne die Einbettung in ihren sozial- und kirchenhistorischen Kontext ist insbesondere bei reformierten Abendmahlsgeräten oftmals mit bloßem Auge nicht zu erkennen, ob es sich um einen weltlichen oder sakralen Gegenstand handelt“, sagt die Kunsthistorikerin. Ihre Arbeit hat Dr. Marina Rieß online publiziert. Sie möchte die Ergebnisse nicht nur anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich machen. „Es würde mich freuen, wenn die vielfältigen, liturgischen Goldschmiedewerke und ihre spannenden Geschichten auch mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückten.“

  • 7.4.2022
  • Simone Becker
  • Marina Rieß